Eine bedeutende Entscheidung in einem langwierigen Verfahren: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Urteil gegen Irmgard Furchner, die ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager (KZ) Stutthof, rechtskräftig gemacht.
Das Landgericht Itzehoe hatte Furchner bereits im Dezember 2022 wegen ihrer Beihilfe zum Mord an 10.505 Menschen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Da sie zum Zeitpunkt der Taten erst 18 beziehungsweise 19 Jahre alt war, wurde die Strafe nach Jugendstrafrecht verhängt.
Die Rolle der Sekretärin im KZ Stutthof
Zwischen 1943 und 1945 arbeitete Irmgard Furchner als Sekretärin im KZ Stutthof bei Danzig. In diesem Lager wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa 65.000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten und ermordet. Die Versorgung der Häftlinge war absichtlich unzureichend, um Todesfälle herbeizuführen. Außerdem wurden Menschen systematisch in Gaskammern und in einer Genickschussanlage getötet.
Furchners täglicher Arbeitsplatz befand sich im ehemaligen Kommandanturgebäude, von wo aus sie das Sterben der Lagerinsassen beobachten konnte. Sie unterstützte die Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung der Häftlinge, indem sie als Schreibkraft wirkte.
Rechtsanwalt Onur Özata und die Nebenklage
Rechtsanwalt Onur Özata vertrat drei Überlebende des KZ Stutthof als Nebenkläger im Prozess gegen Furchner. Er betonte, dass die Verurteilung der Sekretärin wegen Beihilfe zum Mord in mehreren tausend Fällen gerechtfertigt ist. „Der nun rechtskräftige Schuldspruch ist für meine Mandantinnen besonders erfreulich. Sie wollten nie Rache oder Vergeltung“, sagte Özata gegenüber der BILD-Zeitung.
Trotz der verhängten Strafe legte Furchners Verteidigung Revision ein. Die Anwälte argumentierten, dass wesentliche Rechtsfragen ungeklärt geblieben seien und das Landgericht nicht präzise dargelegt habe, wie sich Furchner vorsätzlich an den Morden beteiligt haben soll. Sie sei als zivile Schreibkraft in keine Befehlskette eingebunden gewesen.
Am Dienstag wies der Bundesgerichtshof die Revision zurück und bestätigte die Verurteilung. Dies schließt, nach langen Jahren juristischer Untersuchungen, einen bedeutenden Rechtsstreit ab.
Einblicke in die Bedeutung des Urteils
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs stellt einen bedeutsamen Schlussstrich unter ein Stück deutsche NS-Geschichte. Es zeigt, dass auch Jahrzehnte nach den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, die Beteiligung an diesen Gräueltaten geahndet wird. Die Aufrechterhaltung des Urteils gegen Furchner ist nicht nur ein Symbol für die Überlebenden, sondern unterstreicht auch die Verpflichtung der deutschen Justiz, historische Verantwortung wahrzunehmen.
Die Reise der Richter nach Stutthof während des Verfahrens diente der genauen Ermittlung der Umstände, unter denen Furchner arbeitete. Diese räumliche und emotionale Annäherung unterstreicht die Sorgfalt, die in diesen Prozess einging. Doch das Urteil betont auch die Grenzen dessen, was juristisch nach so vielen Jahrzehnten noch erreicht werden kann. Nicht alle Persönlichkeiten der NS-Zeit wurden je vor Gericht gebracht, aber der Fall Furchner setzt ein klares Zeichen gegen das Vergessen.
Historische Parallelen zu anderen Prozessen
Der Fall Irmgard Furchner erinnert an eine Reihe ähnlicher Gerichtsverfahren, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Fall von John Demjanjuk, der 2011 wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen verurteilt wurde. Demjanjuk, der als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor tätig war, wurde ebenfalls im hohen Alter zur Verantwortung gezogen.
Ein weiterer bedeutender Fall war der Prozess gegen Oskar Gröning, den sogenannten „Buchhalter von Auschwitz“. Auch er wurde 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt und erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Sowohl Demjanjuk als auch Gröning waren weit über 90 Jahre alt, als ihre Verfahren stattfanden, was Parallelen zu Furchners Situation aufzeigt.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Fällen und dem von Furchner liegt in ihrer jeweiligen Rolle innerhalb der Lagerstruktur. Während Demjanjuk und Gröning aktiv an der Durchführung der Verbrechen beteiligt waren, agierte Furchner in einer administrativen Funktion. Dennoch wurden alle drei wegen Beihilfe zur systematischen Tötung von Gefangenen verurteilt.
Hintergrundinformationen zur Verurteilung
Das Konzentrationslager Stutthof, in dem Furchner arbeitete, war eines der ersten Lager, die außerhalb des damaligen deutschen Reichsgebiets errichtet wurden. Es wurde 1939 eröffnet und diente zunächst der Inhaftierung polnischer Intellektueller und politischer Gegner. Später wurden auch jüdische Gefangene, sowjetische Kriegsgefangene und andere unerwünschte Personen im Lager interniert.
Die Lebensbedingungen im Lager waren extrem schlecht. Hunger, Krankheiten und brutale Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Stutthof war auch für seine gezielte Ermordung von Gefangenen bekannt. Ab 1944 wurden vermehrt Gaskammern benutzt, um die wachsende Zahl der Häftlinge zu töten.
Irmgard Furchner arbeitete als Schreibkraft im Kommandanturblock, wo sie Zugang zu vielen sensiblen Informationen hatte und sich des Ausmaßes der Verbrechen bewusst gewesen sein muss.
Statistiken und Daten
Nach Angaben des United States Holocaust Memorial Museum starben im Konzentrationslager Stutthof etwa 65.000 Menschen, darunter Juden, Polen und Kriegsgefangene. Die Mehrheit der Opfer starben aufgrund der unmenschlichen Bedingungen, wie Hunger, Krankheiten und Misshandlungen, aber auch durch gezielte Ermordungen.
In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Länder, einschließlich Deutschland und Polen, vermehrt Anklagen gegen ehemalige KZ-Wachleute und Verwaltungsangestellte erhoben. Laut einer Statistik der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen sind seit 2011 in Deutschland mehr als 60 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitarbeiter von Konzentrationslagern eingeleitet worden.