Im Jahr 2023 haben die Fluchten aus forensischen Kliniken in Bayern einen alarmierenden Höhepunkt erreicht. Bis August sind insgesamt acht Patienten aus Maßregelvollzugseinrichtungen entkommen, wie aus den vom bayerischen Sozialministerium bereitgestellten Daten hervorgeht. Diese Zahl übertrifft bereits die erzielten Fluchten des gesamten Vorjahres, in dem sieben Patienten entwischten. Besonders auffällig ist, dass 2020 keinerlei Entweichungen verzeichnet wurden, während die Jahre zuvor insgesamt überschaubarere Zahlen an Fluchten ausweisen konnten: vier im Jahr 2023 und fünf in den Jahren 2019 und 2021.
Die Fluchthäufigkeit spiegelt nicht nur eine besorgniserregende Entwicklung wider, sondern zeigt auch, dass mehrere der bayerischen Kliniken besonders krisenanfällig sind. Auffällig ist, dass die meisten Fluchten aus dem Isar-Amper-Klinikum in München-Ost stattfanden, das mit etwa 500 Patienten die größte Einrichtung dieser Art in Bayern ist. Schlüsselfaktoren für die hohe Anzahl an Fluchten könnten die Größe der Einrichtungen und die damit verbundenen Herausforderungen in der Sicherheit sein.
Erhebungen zur Fluchtmotivation und Sicherheitsvorkehrungen
Eine besondere Merheit unter den Fluchtstatistiken ist die kürzliche Flucht von vier Männern aus dem Bezirkskrankenhaus Straubing, was nicht nur ein Rekord darstellt, sondern auch die erste gemeinsame Flucht dieser Größenordnung in den letzten Jahren ist. In der Vergangenheit gab es zwar bereits Fluchten von drei Personen, jedoch blieb die Mehrheit der Entweichungen Einzelfälle. Die gegenwärtige Situation wirft Fragen zur Wirksamkeit der Sicherheitsvorkehrungen auf, die Experten als „ausgesprochen hoch“ klassifizieren. So äußert sich der Passauer Strafrechtsexperte Prof. Holm Putzke dazu, dass selbst in Kliniken wie dem Bezirksklinikum Straubing, wo hohe Sicherheitsstandards herrschen, solche Vorfälle nicht ausgeschlossen sind.
Knapp 3.000 Patienten sind aktuell in den 14 bayerischen Maßregelvollzugseinrichtungen untergebracht. Unter diesen befinden sich auch rund 440 „Probewohner“, die aufgrund ihrer stabileren gesundheitlichen Lage die Möglichkeit haben, außerhalb der Kliniken zu leben. Diese Zweiteilung zwischen forensischer Therapie und regulärem Gefängnis stellt eine Grundsatzfrage im deutschen Recht dar, da nur strafrechtlich verantwortliche Täter im Gefängnis einsitzen und psychisch erkrankte Täter in den Maßregelvollzug gelangen.
Sicherheitsmaßnahmen versus Therapieansatz
Der bayerische Sozialministerium under Ulrike Scharf hat bereits Überlegungen angestellt, ob etwaige Therapieabbrüche bei suchtkranken Patienten rascher zu vollziehen sein sollten, was aber von Fachleuten wie Prof. Putzke kritisch hinterfragt wird. Eine pauschale Regelung könnte dem individuellen Fall nicht gerecht werden, zumal die Behandlung in den forensischen Kliniken darauf abzielt, den Patienten bei der Reintegration in die Gesellschaft zu unterstützen. Die Unterscheidung zwischen solchen, die lediglich straffällig wurden, und denen, die unter ernsthaften psychischen Erkrankungen leiden, verdeutlicht den Grundgedanken des Maßregelvollzugs.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern diese alarmierenden Zahlen zu Änderungen im System führen werden, sowohl hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen als auch der therapeutischen Ansätze. Prof. Putzke unterstreicht, dass trotz der kriminellen Energie der Straubinger Täter die Unterscheidung zwischen Suchtkranken und straftätern „grundsätzlich richtig“ sei.
Ein Ausblick auf die Entwicklungen im Maßregelvollzug
Die Problematik der Fluchten aus forensischen Kliniken ist ein ernstzunehmendes Thema, und es zeigt sich, dass hier Handlungsbedarf besteht. Die beeindruckenden Zahlen verdeutlichen nicht nur das Potenzial von Fluchtgelegenheiten, sondern setzen auch den Fokus auf die Notwendigkeit, Sicherheitsprotokolle im Maßregelvollzug zu überprüfen. Ein kontroverses Thema, das nicht nur die Involvierten betrifft, sondern auch weitreichende gesellschaftliche Fragen aufwirft.
Aktuelle Sicherheitsmaßnahmen in forensischen Kliniken
Die Sicherheitsvorkehrungen in bayerischen Maßregelvollzugseinrichtungen sind in der letzten Zeit zunehmend intensiver geworden. Dies geschieht vor dem Hintergrund steigender Entweichungszahlen. In vielen Einrichtungen, einschließlich des Bezirkskrankenhauses Straubing, werden mittlerweile hochmoderne Sicherheitstechnologien eingesetzt, um das Risiko von Fluchten zu minimieren. Dazu gehören unter anderem Videoüberwachungssysteme, verstärkte Zutrittskontrollen und geschultes Sicherheitspersonal.
Darüber hinaus hat eine Untersuchung des Bayerischen Innenministeriums im Jahr 2022 ergeben, dass ein unverhältnismäßig hoher Anteil der italienischen Gefangenen sowie von psychisch erkrankten Straftätern an Fluchten aus forensischen Kliniken beteiligt war. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, spezifische Sicherheitsstrategien zu entwickeln, die sowohl den Bedürfnissen der Patienten als auch den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit gerecht werden. Diese Maßnahmen beinhalten auch individuelle Therapiepläne, die darauf abzielen, Rückfälle zu verhindern und die Therapiefortschritte kontinuierlich zu überwachen.
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Der rechtliche Rahmen für den Maßregelvollzug in Deutschland ist im Strafgesetzbuch (StGB) sowie im Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) festgelegt. Das StGB regelt die Folgen für Straftäter, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht voll schuldfähig sind. Diese Regelung ist von Bedeutung, um einerseits die Rechte der Patienten zu schützen und andererseits die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten. Laut § 63 StGB können diese Personen – sofern sie eine erhebliche Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen – auf Grundlage eines richterlichen Beschlusses in den Maßregelvollzug eingewiesen werden.
Die Lorenz-Studie, die 2021 veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Rückfallquoten bei Straftätern im Maßregelvollzug im Vergleich zu regulären Gefängnissen signifikant verringern können, wenn angemessene therapeutische Maßnahmen ergriffen werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, zwischen strafrechtlicher Verurteilung und der Behandlung von psychischen Erkrankungen zu differenzieren, um eine nachhaltige Reintegration in die Gesellschaft zu fördern.
Öffentliche Wahrnehmung und Stigmatisierung
Die öffentliche Wahrnehmung von forensischen Kliniken und dem Maßregelvollzug ist oft von Misstrauen und Unverständnis geprägt. Medienberichte über Fluchten oder gewalttätige Vorfälle tragen dazu bei, das Bild von psychisch erkrankten Straftätern negativ zu beeinflussen. Laut einer Umfrage des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 2023 glauben knapp 60% der Befragten, dass in forensischen Kliniken mehr Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind.
Doch Fachleute warnen davor, alle psychisch Erkrankten über einen Kamm zu scheren. Die Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene nicht die notwendige Hilfe und Unterstützung erhalten. Psychologen und Therapeuten argumentieren, dass ein besseres Verständnis für psychische Erkrankungen und deren Behandlung in der Gesellschaft dringend erforderlich ist, um Vorurteile abzubauen und eine weitere Marginalisierung von Betroffenen zu verhindern.