Schulen prägen nicht nur den Bildungsweg junger Menschen, sondern sie sind auch Orte, an denen soziale Beziehungen entstehen und Konflikte ausgetragen werden. Helmut Klemm, Schulleiter der Eichendorffschule in Erlangen, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um sein Anliegen geht: die immense Herausforderung, die an Halbtagsschulen besteht. Er hat deutlich gemacht, dass die kurze Zeit, die Schüler in der Schule verbringen, nicht ausreicht, um Werte zu vermitteln und Konflikte produktiv zu behandeln.
„An einer Halbtagsschule ist Erziehung oft eine Reaktion auf Verhalten. Wenn ein Schüler gegen Regeln verstößt, gibt es meist nur die Konsequenz“, sagt Klemm. Dieser Ansatz könne langfristig eine negative Atmosphäre schaffen, in der die Schüler nicht als Individuen mit eigenen Sorgen und Nöten wahrgenommen werden. Dies führt dazu, dass die Schulen zunehmend zu Orten des Drucks werden, an denen Schüler nicht ihr volles Potenzial entfalten können.
Die Notwendigkeit einer Ganztagsschule
Klemm ist ein Verfechter der Ganztagsschule. In seinem Konzept ist es entscheidend, dass Schüler nicht nur unterrichtet werden, sondern auch Zeit haben, um sich auszutauschen und gemeinsam zu lernen. „In einer Ganztagsschule sieht der Blick auf die Schüler ganz anders aus“, erklärt er. Er hält die Bildungsgerechtigkeit für einen zentralen Grund, warum die Modelle für Ganztagsschulen erweitert werden sollten. „Wir brauchen Ganztagsbildung, nicht nur ein erweitertes Betreuungsangebot“, so Klemm weiter.
Er berichtet, dass die Ganztagsstruktur ihm ermöglicht, zwei Jugendsozialarbeiter und eine Sozialpädagogin als Teil seines Teams zu haben, was eine wichtige Unterstützung im Umgang mit Konflikten darstellt. Dies ist besonders wichtig, da laut der Robert Bosch Stiftung fast die Hälfte der Lehrkräfte an Schulen von Gewalt und Mobbing betroffen ist. Die Herausforderung besteht oft darin, dass diese Probleme nicht in der kurzen Zeit gelöst werden können, die an Halbtagsschulen zur Verfügung steht.
Die Situation in Deutschland zeigt sich auch in den Statistiken: Nur 1,3 Prozent der öffentlichen Realschulen in Bayern sind als voll gebundene Ganztagsschulen klassifiziert. Laut den Daten der Kultusministerkonferenz ist die Zahl der Ganztagsschulen in Deutschland zwar gestiegen, die Mehrheit der Schulen jedoch bleibt bei offenen Ganztagsangeboten, die oft nicht den Anforderungen an Bildungsgerechtigkeit gerecht werden.
Ein Blick auf den Schulalltag
In der täglichen Praxis erleben Schüler an Halbtagsschulen oft einen straffen Stundenplan, was zu einer geringen Identifikation mit der Schulgemeinschaft führt. „Eine Schulstunde jagt die nächste“, sagt Klemm. Es fehlte an Zeit für kreative Fächer und das gemeinsame Miteinander. „Schule in der schlimmsten Form“, titelt Klemm treffend und hinterlässt damit einen bleibenden Eindruck über die Notwendigkeit, das Schulsystem neu zu denken.
Ein besonders bemerkenswerter Punkt ist die Möglichkeit, Kooperationen mit externen Anbietern zu schaffen, die über den Schulen ihre Angebote für die Schüler erweitern. Im Ausland, wie zum Beispiel in Kanada, sind solche erweiterten Lern- und Freizeitformen die Norm. Klemm weist auf eine fehlende Integration von außerschulischen Aktivitäten hin, die den Schulalltag enorm bereichern könnten. „Schule wird nicht nur von Lehrern gemacht“, sagt er und fordert ein Umdenken im deutschen Bildungssystem.
In Anbetracht der Zukunft stellt Klemm fest, dass es einen grundlegenden Wandel in der Schulbildung braucht, um den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht zu werden. „Es liegt an uns, die Schulen zu Orten zu machen, an denen Kinder nicht nur lernen, sondern sich auch als Teil einer Gemeinschaft fühlen können“, fügt er hinzu.
Ein solcher Gedanke könnte den entscheidenden Anstoß für Reformen im Bildungssystem geben, die nicht nur den Lehrplan, sondern auch die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern neu definieren. Die Vision einer Schule, die mehr ist als nur ein Ausbildungsort, sondern auch ein Raum für persönliche Entfaltung, könnte die Antwort auf viele der aktuellen Probleme im Bildungssystem darstellen.
Die Diskussion um die Ganztagsschulen in Deutschland ist Teil eines größeren Bildungsdiskurses, der sich um Chancengleichheit und die Qualität von Bildungsangeboten dreht. Der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung wird wesentlich durch die Schulform, die umgebenden sozialen Bedingungen und die Unterstützung durch das Umfeld beeinflusst. Die Herausforderungen, mit denen Ganztagsschulen konfrontiert sind, sind oft ein Spiegelbild der sozialen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft.
Aktuelle Entwicklungen in der Bildungslandschaft
Laut einem Bericht der Kultusministerkonferenz im Jahr 2022 liegt die Zahl der Ganztagsschulen in Deutschland bei etwa 30.000, was mehr als 80 Prozent aller Schulen ausmacht. Diese Schulen stehen zunehmend im Fokus der Bildungspolitik, insbesondere im Hinblick auf ihre Rolle bei der Integration von benachteiligten Schülern. Ein entscheidender Faktor hierbei ist die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel, um qualitativ hochwertige Programme entwickeln zu können.
Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich der Ganztagsbildung von Bedeutung ist, sind die Anforderungen und Erwartungen der Eltern. Umfragen zeigen, dass immer mehr Eltern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als entscheidendes Kriterium für die Schulwahl ansehen. Viele wünschen sich eine schulische Betreuung, die über das reine Lernen hinausgeht und soziale Kompetenzen fördert.
Studien zur Wirksamkeit von Ganztagsschulen
Zahlreiche Studien belegen, dass Ganztagsschulen positive Effekte auf die sozialen und leistungstechnischen Fähigkeiten von Kindern haben können. Eine umfassende Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2020 weist darauf hin, dass Schüler an Ganztagsschulen tendenziell bessere Noten erreichen und weniger häufig von Verhaltensauffälligkeiten betroffen sind. Die Studienergebnisse zeigen, dass die Förderung von sozialen und kreativen Aktivitäten, die in Ganztagsschulen stattfinen, einen entscheidenden Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung der Kinder leisten.
Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Schüler an Ganztagsschulen häufiger an Extrakursen teilnehmen, was zu einem höheren Engagement und einer stärkeren Identifikation mit der Schule führt. Diese Faktoren summieren sich zu einem positiven Bild über die langfristigen Auswirkungen eines ganztägigen Bildungssystems.
In der aktuellen Bildungslandschaft ist die Entwicklung von Ganztagsschulen weiterhin ein zentrales Thema, das sowohl politisch als auch gesellschaftlich diskutiert wird. Angesichts der Herausforderungen sei es unerlässlich, innovative Konzepte zu entwickeln, die nachhaltig die Bedürfnisse der Schüler und ihrer Familien berücksichtigen.