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Gewalt in der Pflege: Alarmierende Zahlen und dringend benötigte Reformen

In Osterholz-Scharmbeck fordert der Weiße Ring angesichts von über 25.000 nicht gemeldeten Fällen von Gewalt in der Pflege einen Pflegeführerschein für Angehörige, um der alarmierenden Situation in der häuslichen Pflege entgegenzuwirken.

Im Jahr 2022 wurden in Deutschland alarmierende 7300 Vorfälle im Zusammenhang mit Gewalt in der Pflege zur Anzeige gebracht. Diese Zahl wurde von Cornelius Ledig, dem Leiter der Außenstelle des Weißen Rings in Osterholz-Scharmbeck, genannt. Bei einem Vortrag für den Seniorenbeirat unterstrich Ledig, dass viele Fälle unentdeckt bleiben. Schätzungen zufolge gibt es sogar insgesamt 25.500 nicht erfasste Vorfälle, besonders besorgniserregend ist der Bereich der häuslichen Pflege, wo allein 11.000 nicht gemeldete Fälle angenommen werden.

Ledig beleuchtet dabei ein oft tabuisiertes und vielschichtiges Thema. Er verwies auf das bekannte Bild des inhaftierten Krankenpflegers Niels Högel, der wegen des Mordes an über 80 Patienten verurteilt wurde. Högels Taten könnten als Spitze eines Eisbergs gelten. Ledig stellte auch in den Raum, dass Gewalt in der Pflege nicht immer offensichtlich sei. Er benannte die ethischen Dilemmata, mit denen Pflegekräfte konfrontiert werden, wenn sie gegen den Willen der zu Pflegenden handeln, um dessen „Bestes“ zu erreichen. Das Beispiel, einer Person trotz Widerstand die Stützstrümpfe anzuziehen, wirft die Frage auf: Ab wann wird aus Pflege Gewalt?

Risikofaktoren in der Pflege

Die Ursachen für Gewalt in der Pflege sind vielseitig und komplex. Überforderung, Stress, Personalmangel und emotionale Erschöpfung können zu einem angespannten Umfeld führen. Eine unzureichende Ausbildung trägt ebenfalls zur Problematik bei, da Pflegekräfte oft nicht über die nötigen Deeskalationstechniken verfügen. In der häuslichen Pflege kann auch der Druck von familiären Konflikten eine Rolle spielen, wodurch zu Pflegende vernachlässigt werden.

Der Vortrag thematisierte zudem die subtilen Formen von Gewalt. Ledig schilderte, dass Schuldgefühle, die einem pflegebedürftigen Familienmitglied vermittelt werden, nicht weniger schwerwiegende Konsequenzen haben können. Aussagen wie „Du bist eine Last“ sind alltäglich und führen oft zu einem negativen Selbstbild des Gepflegten. Dies kann ins Extrem gehen und in Formen wie Isolation oder Unterdrückung der Zuneigung münden. Auch bei den Angehörigen können Machtspiele wie Unterschlagung oder Erpressung vorkommen.

Handlungsempfehlungen für eine bessere Pflege

Ein entscheidender Schritt, um gewaltsame Strukturen zu erkennen, ist das Bewusstsein. Ledig betont, dass eine frühzeitige Identifizierung von Problemen essentiell ist, um teure und schädliche Erfahrungen zu vermeiden. Dokumentation muss eine prioritäre Rolle spielen, sowohl intern als auch bei externen Meldungen, die anonym möglich sind. Es darf keine Zeit verloren gehen bei der Implementierung von Schutzmaßnahmen. Aufarbeitung, Schulungen und Berichterstattung sind weitere Schlüssel zu einer gewaltsamen Pflege zu verhindern.

Mit Blick auf die Zukunft wird die Notwendigkeit eines „Pflegeführerscheins“ für Angehörige immer deutlicher. Damit könnte auf die Herausforderungen reagiert werden, denen Familien in der häuslichen Pflege gegenüberstehen und gleichzeitig ein Schritt in Richtung Professionalität getan werden. Die Rolle von technischen Innovationen, wie Telemedizin und Robotik, könnte zusätzlich die Qualität der Pflege revolutionieren und vollständige Unterstützung bieten.

Die Problematik rund um die Pflege wird durch die demografischen Veränderungen in der Gesellschaft verstärkt. Die Zahl der Pflegeheime hat sich in diesem Jahrzehnt verdoppelt, während ein Fachkräftemangel von 500.000 in Deutschland bis 2030 prognostiziert wird. Ledig fordert nicht nur technologische Unterstützung, sondern auch politische Maßnahmen für eine nachhaltige und humane Pflege. Ohne entsprechende Reformen und die Unterstützung für Angehörige ist eine Wende in der Pflege nicht zu erwarten. Die Zunahme häuslicher und ambulanter Pflege erfordert eine Anpassung der Angebote, um den Bedarf an individualisierter Pflege zu decken.

Für Opfer von Gewalt in der Pflege gibt es Unterstützungsmöglichkeiten, darunter Beratungsstellen und Hotlines, die von dem Weißen Ring sowie anderen Organisationen angeboten werden. Ein solches Netzwerk ist nötig, um den Opfern beizustehen und die Dunkelziffer von Gewalt in der Pflege zu reduzieren.

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