Die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod ist in unserer Gesellschaft oft tabuisiert. Doch an der Gießener Ostschule wird diese Thematik nicht ignoriert. Hier erhalten Schülerinnen und Schüler der zehnten Klassen die Möglichkeit, sich im Rahmen eines Letzte-Hilfe-Kurses mit dem Sterbeprozess und der damit verbundenen Begleitung zu beschäftigen. Dies geschieht besonders im Kontext der Vorbereitungen auf den Führerschein, der ebenfalls eine Erste-Hilfe-Schulung beinhaltet.
Der Letzte-Hilfe-Kurs, der erstmals an der Ostschule durchgeführt wurde, sieht sich als Maßnahme, um Berührungsängste zu verringern. Die 16-jährige Lilli Marie Deisinger, eine Teilnehmerin des Kurses, beschreibt, wie der Tod ihrer Großmutter sie dazu veranlasst hat, sich intensiver mit dem eigenen Umgang mit Verlusten auseinanderzusetzen. Der Kurs vermittelt nicht nur Wissen, sondern auch praktische Tipps, wie man das Leiden von Sterbenden lindern kann.
Ein zentraler Aspekt des Kurses ist die Bedeutung eines Netzwerks für den Sterbenden, das die Schüler durch verschiedene Aktivitäten erleben konnten. In einer anschaulichen Übung mit einem Schwungtuch erlernten sie, wie kleine Unterstützungen eine große Wirkung auf das Wohlbefinden eines Sterbenden haben können. Die Kursleiterin Juliane Lang machte hierbei deutlich: „Viele Menschen denken, sie müssten es alleine schaffen. Aber dem ist nicht so.“
Der Kurs bietet den Jugendlichen auch die Gelegenheit, sich mit eigenen Wünschen und Vorstellungen zum Thema Sterben auseinanderzusetzen. Obwohl im Falle von Minderjährigen die Eltern Entscheidungen treffen, betont Lang, wie wichtig Gespräche über diese Themen in der Familie sind. Lilli Marie Deisinger fand die Diskussion über den eigenen Sterbeprozess befreiend und bestätigt: „Man muss keine Angst vor dem Tod haben.“
Der Letzte-Hilfe-Kurs wird künftig fester Bestandteil des Religions- und Ethikunterrichts im zehnten Schuljahr der Ostschule sein. Die Verantwortung zur Information der Eltern wird dabei ernst genommen, um eine reflektierte Entscheidung über die Teilnahme am Kurs zu gewährleisten, insbesondere in Zeiten akuter Trauer. Mit dieser Initiative hoffen die Verantwortlichen, einen Schneeballeffekt auszulösen, bei dem auch Eltern beginnen, über wichtige Themen wie Patientenverfügungen mit ihren Kindern zu sprechen.
Für Lilli Marie Deisinger hat der Kurs eine wichtige Bestätigung gebracht. Sie ist sich sicher, dass ihre Familie während des Sterbeprozesses ihrer Großmutter alles richtig gemacht hat. Indem der Letzte-Hilfe-Kurs an Schulen angeboten wird, wird nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch eine respektvolle Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod gefördert. Dies ist von zentraler Bedeutung in einer Welt, die oft ausblendet, dass der Sterbeprozess ein Teil des Lebens ist.
– NAG