Die Welt der Literatur ist oft so vielfältig und komplex, dass sie selbst talentierte Schriftsteller in Verwirrung stürzen kann. Dies zeigt sich deutlich im neuen Roman „Billie“ von Stefan Cordes, der sich mit Sibylla Schwarz, einer einzigartigen Stimme der norddeutschen Barockdichtung, auseinandersetzt. Cordes beschreibt die jungen Jahre und tragischen Umstände dieser talentierten Dichterin, die mit nur 17 Jahren starb. Doch anstatt sich intensiv mit Sibyllas Leben, ihren Einflüssen oder ihrem Werk zu beschäftigen, verwandelt er sie in eine Figur, die in einer unwirklichen Welt gefangen ist und starr an einem Kitsch festhält, der für das historische Zeitalter untypisch ist.
Sibylla Schwarz lebte während eines der turbulentesten Zeiten der europäischen Geschichte, dem Dreißigjährigen Krieg. Geboren 1621 und verstorben 1638, war ihr frühes Leben von Verlust und Elend geprägt, darunter der Tod ihrer Mutter an der Pest. Cordes‘ Roman versucht, die Gedichte dieser bemerkenswerten Frau in ein Narrativ zu gießen, das jedoch an vielen Stellen anachronistisch wirkt. So werden alltägliche Elemente wie geschnittene weiße Spargel und Kartoffeln in einem 17. Jahrhundert dargestellt, was die Authentizität der Geschichte untergräbt.
Die poetische Praxis des Barock
Die Gedichte von Sibylla Schwarz, posthum 1650 veröffentlicht, zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Beherrschung der poetischen Konventionen aus. Sie adaptiert Werke ihrer Zeit und schafft damit eine eigene, ausdrucksstarke Lyrik. So beispielsweise in ihrem Gedicht „Verachtung der Welt“, das stark von Jacob Cats‘ Werk beeinflusst ist. Der Oldenburger Literaturwissenschaftler Christian Schmitt zeigt auf, wie Schwarz sowohl den Inhalt als auch die Form der niederländischen Vorlage verarbeitet und selbstbewusste neue Redewendungen kreiert. Dennoch bleibt ein Großteil der Gedichte von Schwarz bis heute ein Rätsel, da sie oft Situationen der Hochzeiten und Todesfälle thematisiert, ohne tiefere Einblicke in ihr persönliches Leben zu geben.
Der Gedichtband von Michael Garz, der die Werke von Schwarz historisch und kritisch aufbereitet, ist eine wertvolle Ressource für alle, die mehr über diese faszinierende Dichterin erfahren möchten. Cordes hingegen verpasst es, diese Tiefen in seiner Erzählung einzufangen. Stattdessen konzentriert er sich auf ein Konstrukt, das überzogene Geschlechterrollen und emotionale Abhängigkeit thematisiert, ohne die Nuancen von Schwarz’ tatsächlichem Leben und Werk zu erfassen. Die junge Autorin wird fast zum Opfer ihrer Umgebung und der Launenhemian, die Cordes ihr zuschreibt.
Obwohl Cordes den Versuch unternimmt, die Widerstände der Geschlechterrollen seiner Zeit darzustellen, zeigt seine Herangehensweise das genaue Gegenteil. Durch die Überbetonung dieser Rollen bei gleichzeitiger Verklärung der Dichterin verpasst er es, Sibylla als die einzigartige Kraft darzustellen, die sie wirklich war. Diese Missinterpretation wird auch in seinem Versuch klar, sie als radikal zu zeichnen, während ihre tatsächlichen Werke die Realität der Barockzeit so vielschichtig und komplex reflektieren.
Das fehlende Verständnis für die Dichterin
Cordes‘ Roman gipfelt in einem fiktiven Hexenprozess, der die Poetik Schwarz’ und ihre Gedichte völlig vereinnahmt. Der Vorwurf, den die Anklage gegen sie erhebt, basiert auf einem ihrer Gedichte, das in Cordes‘ Augen blasphemisch ist. Diese dramatische Wendung ist historisch jedoch nicht haltbar, da unter der Herrschaft von Königin Christina in der Region, in der Schwarz lebte, keine Hexenverfolgungen stattfanden. Der Versuch, durch solche Übertreibungen Spannung zu erzeugen, führt nur zu einer Verzerrung der Historie.
Statt eine nuancierte Erzählung über eine talentierte Dichterin und die Herausforderungen ihres Lebens zu schaffen, stürzt sich Cordes in Kitsch und emotionale Klischees, die zu oft überstrapaziert und oft unpassend erscheinen. Er erliegt dem Drang, Schwarz als Figur zu schildern, die in einem verzerrten Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit gefangen ist, ohne die Stärke und Kreativität zu betonen, die sie in ihren eigenen Werken verkörpert. Letztlich bleibt unklar, was Cordes genau an Sibylla Schwarz fasziniert, denn weder ihre Gedichte, noch ihre Gedanken finden den Platz, den sie in ihrem eigenen Leben verdient hätten.
Insgesamt scheint Cordes‘ Roman mehr eine moderne Interpretation als eine authentische Retrospektive über Sibylla Schwarz zu sein. Seine erzählerischen Entscheidungen resultieren in einem Werk, das den Zugang zur wahren Essenz ihrer Lyrik unter einer Schicht von überflüssigem Kitsch und Handlungseinlagen verbirgt. Der Versuch, eine bedeutende Dichterin in einen neuen narrativen Kontext zu setzen, erweist sich als problematisch, wenn die Wurzeln ihrer Existenz vergessen werden. Für alle Literaturinteressierten bleibt Schwarz’ schmerzvolle, aber auch inspirierende Geschichte bis heute von großer Relevanz und verdient eine Erzählung, die ihr gerecht wird.