Köln (ots)
In einem deutlichen Aufruf zur Aufmerksamkeit hat Abraham Lehrer, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die aktuellen politischen Geschehnisse in Israel und die damit einhergehenden Äußerungen von Regierungsvertretern, insbesondere von Minister Itamar Ben-Gvir, scharf verurteilt. Lehrer äußerte in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Montag-Ausgabe) seine Besorgnis über die Maßnahmen der israelischen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu. Insbesondere kritisierte er die Äußerungen von Ben-Gvir, die den Gaza-Streifen betreffen, und die Bestrebungen, die Judikative zu entmachten. Diese Entwicklungen seien zwar nicht hinnehmbar, doch sei es unangebracht, dadurch das Existenzrecht des Staates Israel infrage zu stellen.
Lehrer, der auch Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde Köln ist, betonte die Tücken des Antisemitismus, insbesondere in progressiven und queeren Milieus. Der Vorfall, bei dem jüdische Teilnehmende auf einer Solidaritätsveranstaltung aufgrund ihrer Verbindung zu Israel und dem Mitführen einer Pride-Flagge mit dem Davidstern angegriffen wurden, ist für ihn ein alarmierendes Zeichen. „Antisemitismus macht vor keinen Grenzen halt“, so Lehrer, „er kann selbst in den fortschrittlichsten und angeblich emanzipierten Räumen gedeihen.“ Diese Beobachtungen werfen ein grelles Licht auf die Komplexität des Antisemitismus und seine vielen Facetten.
Kritik an der fehlenden Solidarität
Lehrer richtete sich auch an die breite Gesellschaft und kritisierte die mangelnde Solidarität mit Jüdinnen und Juden, besonders seit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober. Er bezeichnete dieses Versagen als „dicken Mangel“. Lehrer sieht die Zivilcourage der Bevölkerung als einen entscheidenden Indikator für den Zustand der Demokratie. „Je mehr eine Minderheit ausgegrenzt wird, desto mehr muss die Mehrheit einschreiten“, führte er aus. Diese Beobachtungen legen nahe, dass das Verständnis für die Schwierigkeiten von marginalisierten Gruppen ein gesellschaftliches Minimum darstellen sollte.
Besonders beunruhigend ist für Lehrer das Gefühl, dass viele Menschen im Bildungssektor an ihre Grenzen stoßen könnten. „Die Bundesmittel dürfen nicht verhandelbar sein“, betonte er. Diese Art von finanzieller Unterstützung sei notwendig, um ein sicheres Umfeld für alle zu schaffen und Angriffe auf jüdische Menschen zu verhindern. Das Gefühl, dass niemand da ist, um sich schützend vor die Betroffenen zu stellen, ist eine der größten Ängste für die Betroffenen von Antisemitismus, so Lehrer.
Wahlen und politische Verantwortung
In Anbetracht der bevorstehenden Landtagswahlen äußerte Lehrer den Wunsch, dass die Wähler in den Bundesländern Brandenburg, Thüringen und Sachsen kluge Entscheidungen treffen. „Es ist wichtig, keine rechtsextremistische oder populistische Partei zu wählen“, so der Vizepräsident. Er hervorgehoben hat, dass unsere Demokratie zu wertvoll ist, um sie politischen Extremisten und Populisten zu überlassen. Diese Wahl könnte entscheidend sein für die zukünftige Ausrichtung der politischen Landschaft in Deutschland.
Mit seiner starken Botschaft fordert Lehrer nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der politischen Lage in Israel, sondern ruft auch zur Reflexion über den Umgang mit Antisemitismus in sozialen Gruppen auf. Diese Äußerungen sind nicht nur lokal relevant, sondern spiegeln auch ein größeres, gesellschaftliches Problem wider, das es zu adressieren gilt.
Ein denkwürdiger Aufruf zur Wachsamkeit
Lehrers Worte sind ein eindringlicher Appell an alle Teile der Gesellschaft, sich aktiv gegen Vorurteile und Diskriminierung zu wenden. Vielfalt und Solidarität sollten Werte sein, die nicht nur proklamiert, sondern auch aktiv gelebt werden. In einer Welt, in der Antisemitismus, sowie andere Formen der Ungleichheit, weiterhin Realität sind, bleibt es unabdingbar, sich für die Rechte aller Menschen einzusetzen. Der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft beginnt mit dem Mut, Missstände zu benennen und aktiv gegen sie zu kämpfen.
Kritik an der israelischen Regierung
Die Kritik von Abraham Lehrer an der israelischen Regierung ist nicht neu, sondern spiegelt eine wachsende Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungen der aktuellen Führung wider. Seit Benjamin Netanjahu 2022 wieder an die Macht kam, stehen dessen Entscheidungen, insbesondere im Hinblick auf die Judikative und den Konflikt mit den Palästinensern, verstärkt in der öffentlichen Diskussion. Die umstrittenen Pläne zur Reform der Justiz, die insbesondere die Macht des Obersten Gerichtshofs einschränken sollen, sorgten bereits zuvor für Proteste im eigenen Land und international. Kritiker befürchten, dass solche Maßnahmen die demokratische Grundordnung Israels gefährden könnten. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite der Times of Israel.
Antisemitismus in verschiedenen Milieus
Lehrers Bemerkung über Antisemitismus in progressiven, linken und queeren Kreisen ist ein bedeutender Punkt in der laufenden Debatte über die Wahrnehmung von Antisemitismus in modernen gesellschaftlichen Bewegungen. Diverse Studien zeigen, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem der politischen Rechten ist, sondern auch in Vielzahl von progressiven Bewegungen existiert. Laut einer Untersuchung der Friedrich-Naumann-Stiftung aus dem Jahr 2021 gibt es in Deutschland eine besorgniserregende Verbreitung antisemitischer Einstellungen, die in allen gesellschaftlichen Schichten vorhanden sind. Die Tatsache, dass nicht nur Fronten zwischen konservativen und progressiven Gruppen existieren, sondern auch in scheinbar emanzipatorischen Bewegungen Vorurteile gegen jüdische Menschen bestehen, hebt die Komplexität der Debatte hervor.
Die Wahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland
Die aktuelle Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist geprägt von einem ambivalenten Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft. Lehrer erwähnt die Herausforderungen, mit denen viele jüdische Menschen konfrontiert sind, wenn es um ihre Sicherheit und den Umgang mit Antisemitismus geht. Laut der antisemitischen Vorurteile-Studie des Jüdischen Weltkongresses aus dem Jahr 2021 haben 89 % der Befragten angemerkt, dass sie in ihrem Umfeld schon einmal mit offenen oder verdeckten antisemitischen Äußerungen konfrontiert worden sind. Die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf diese Vorurteile ist daher von zentraler Bedeutung, um ein sicheres Umfeld für die jüdische Gemeinschaft zu gewährleisten.
Die Wahl der Landtage in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wird als eine Gelegenheit angesehen, um Verantwortung gegen populistische und rechtsextremistische Strömungen zu zeigten. Die Wähler werden dazu aufgerufen, sich für eine Demokratie zu entscheiden, die für alle ihre Bürger sicher ist. Informationen über die aktuellen Wahlen und deren Risiken für die Demokratie sind unter anderem auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung zu finden.